Wenn es um digitale Trends geht, weiß man, man muss nach China schauen: Was ist neu, was sind die Chancen, was ist technisch alles möglich? Aktuell kommen für Firmen, die in den chinesischen Markt investieren, aber ganz neue Fragen hinzu: Was sind die neuesten Gesetze, wo liegen die Probleme, was ist noch möglich?Im Livestreaming-Segment kann man beobachten, wie sich durch verschärfte Regulierungen eine komplette Branche verändert.
Als Alibaba 2016 Taobao Live startete, begann eine neue Ära des E-Commerce in China. Das Geschäft lief und läuft weiterhin mehr als gut: McKinsey erwartet, dass im Jahr 2022 in China 423 Milliarden US-Dollar über Livestreaming umgesetzt werden. Ein beachtlicher Teil dieses Geldes geht an einige Top-Livestreamer:innen. Der Markt wurde seit Langem insbesondere von zwei Persönlichkeiten bestimmt, deren Dominanz auch während des letzten Double-11-Einkaufsfestivals gut zu beobachten war: Austin Li und Viya konnten bereits am ersten Tag des Vorverkaufs 3 Milliarden US-Dollar Umsatz erzielen.
Der Erfolg der beiden war so groß, dass die dahinterstehenden Agenturen Gerüchten zufolge jeweils einen eigenen Börsengang vorbereiteten. Eine richtige Erfolgsgeschichte – aber nur für einige wenige. Verschiedene Stimmen wurden laut, dass dieses „Duopol auf Liveshopping“ durch die Stars Austin Li und Viya das Event für die Marken zerstöre. Verbraucher:innen entschieden sich dazu, bei den Livestreaming-Promis zuzusehen und dort zu shoppen. Viya allein generierte während des Shopping-Festivals ein Publikum von 100 Millionen Menschen zeitgleich. Ein echtes Ärgernis für alle Marken, die sich eine Kooperation mit den Livestreaming-Superstars nicht leisten konnten. Denn diese rufen derzeit sehr hohe Gebühren auf, die sich meist nur etablierte und schon erfolgreiche Marken leisten können.
Dieses Double-11-Shopping-Event war vermutlich Viyas letzter großer Auftritt, denn kurz darauf wurde sie wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von umgerechnet 210 Millionen US-Dollar verurteilt. Damit ist auch die komplette Karriere beendet und ihre Profile wurden umgehend von allen Plattformen gelöscht. Die regierungsnahe Zeitung Global Times betitelte die Geldstrafe als eine „Warnung für andere“. Andere, die es durchaus gibt: Kurz zuvor waren bereits Zhu Chenhui (Cherie) und Lin Shanshan verurteilt worden. Auch sie erhielten Strafen in Millionenhöhe und ihre Taobao Accounts wurden geschlossen.
Analyst:innen gehen jedoch davon aus, dass diese Maßnahmen durchaus gut für Marken und den Markt sein könnten, da die Dominanz einiger weniger geschwächt wird und auch kleinere Marken-Stores eine faire Chance im Wettbewerb um E-Commerce-Traffic bekommen.
Im chinesischen E-Commerce, ja. Trotz des harten Durchgreifens der Regierung und unvorhersehbaren Entscheidungen, die etablierte Prozesse und Erfolgskonzepte quasi über Nacht aushebeln können, wird Livestreaming weiter bestehen und sogar ein immer wichtigerer Bestandteil von Markenpräsenzen werden.
Immer mehr Plattformen steigen in den Liveshopping-Bereich ein, besonders erwähnenswert sind Douyin (TikTok in China) und Pinduoduo. Daneben tauchen andere interessante Geschichten auf, wie die von Minhong Yu, Gründer von Chinas ehemals größtem privaten Bildungsunternehmen. Er verkündete Pläne seiner Firma, eine eigene Live-Streaming-E-Commerce-Plattform extra für landwirtschaftliche Produkte zu starten.
Klar ist: Europäische Marken, die wachsen möchten, kommen um den chinesischen E-Commerce-Markt nicht herum. China ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Welt, relevant ist vor allem die größte Mittelschicht weltweit, die kaufkräftig ist und stetig weiter wächst. Beachtlich ist auch, dass bereits jetzt die Hälfte des chinesischen Einzelhandelsvolumens online umgesetzt wird – Tendenz steigend.
Die Rolle, die das Livestreaming im E-Commerce in China spielt, wird ebenfalls weiterhin größer. Die Frage ist also nicht, ob europäische Marken Livestreaming nutzen sollten, sondern wo, mit wem und wie:
1. Wo ist entscheidend. Es gilt herauszufinden, auf welchen Plattformen die Marke vertreten sein muss. Ein strategischer Mix aus verschiedenen Plattformen kann dabei wichtig sein, um die richtigen Zielgruppen zu erreichen.
2. Kooperationen mit bekannten Livestreamer:innen sind auch weiterhin eine ausgezeichnete Möglichkeit, um die Sichtbarkeit der eigenen Marke zu erhöhen – welche man auswählt, will aber gut durchdacht sein.
3. Noch etwas unterschätzt wird außerdem die Wichtigkeit von sogenannten In-House Livestreamer:innen, welche die Produkte der Marke gut kennen, diese täglich im eigenen Marken-Store vorstellen und dazu spezifische Kundenfragen in Echtzeit beantworten. In-House Livestreamer:innen bringen nicht nur Traffic, sondern erhöhen auch Konversionsraten und die Kundenloyalität.
Und vor allem geht es jetzt noch mehr darum, nicht nur den Markt, sondern auch kulturelle und politische Zwischentöne besser zu verstehen, eine vorausschauende Lokalisierungsstrategie zu haben sowie die Bereitschaft, sich schnell auf Veränderungen einzulassen.